Stillers Dachboden
  Arnfried und Berthold
 

"Das war ein ziemlicher Pillemannaapopokopf. Gut, dass er tot ist.“, sagte Arnfried abwesend, als die Kellnerin mit ihren Karten davonstiefelte, woraufhin sein Gegenüber nur einen tiefen Seufzer vernehmen ließ. Es war Berthold schließlich schon lästig genug, mit Menschen zu sprechen, die er nicht für Vollidioten hielt; dennoch konnte er das so nicht stehen lassen: „Das ist das dämlichste, was ich je gehört habe.“, stellte er also klar.

"Ich komme ja auch gerade erst.“, entgegnete Arnfried mit jenem geistlosen Grinsen, das zweifelsfrei bereits unzählige Gesprächspartner zu Gewaltphantasien inspiriert hatte. Berthold konnte nur stumm in dieses Gesicht schauen und sich vorstellen, wie er es ausdauernd und durchaus mit gewisser Befriedigung ohrfeigte.

"Du bist auch nicht gerade gesprächig. Hast du deine Zunge verschluckt?“, drückte Arnfried einige stille Momente später in den Raum und entfernte seine Mundwinkel noch weiter voneinander. Ohne es zu ahnen, hatte er damit seinem Gegenüber neue Denkanstöße gegeben, das ihm nun in der Vorstellung alle Atem- und besonders Sprechöffnungen mit dem weichen Brot verstopfte, das eine solariumsgeschädigte Bedienung soeben mit dem Lächeln einer Professionellen auf die schmuddelige Tischdecke gestellt hatte.

"Ich habe gerade in eine ähnliche Richtung gedacht.“, brachte Berthold mit gespannten Mundwinkeln hervor, verschränkte dann die Arme und schaute betont aufmerksam aus dem Fenster, um zu signalisieren, dass er kein Bedürfnis nach weiteren Äußerungen seines mondgesichtigen Tischgenossen verspürte. „Arnfried“ war neutral betrachtet wohl der merkwürdigste Name, der in den letzten 20 Jahren vergeben worden war. Ein „Berthold“ musste da zwar etwas vorsichtig sein, aber dennoch erschien ihm das als gesicherte Tatsache.

"Wir müssen aus ja auch nicht unterhalten, alter Brummbär. Dann schweigen wir uns eben an, bis die Mädels kommen.“, musste Arnfried nun wieder von sich geben. Er schien unter Sprechpausen fast körperlich zu leiden, weshalb Berthold es ernsthaft in Erwägung zog, den ganzen Abend über kein einziges Wort mehr zu sagen. Allerdings konnte auch das wieder nicht unkommentiert stehen bleiben. „Würdest du bitte aufhören wie eine verdammte Tucke daherzuquatschen?“, knurrte er also aus seinem Kehlkopf heraus und bemühte sich um eine möglichst raue Stimme.

"Sei doch nicht immer so grob zu mir, Hase.“ lautete die affektierte Antwort, gefolgt von einem hochgestellten Gelächter. Einem sehr einsamen Gelächter übrigens.

"Es ist einfach nicht zu glauben, dass du von einer Beerdigung kommen und trotzdem noch eine schlechte Imitation vom schlechtesten Clown der Welt machen kannst. Ich meine ganz im Ernst: Der Pastor war noch wesentlich lustiger als du.“, sagte Berthold mit einem sarkastischen Grinsen im Mundwinkel und einem fast unsichtbaren Glanz um die Tränendrüsen herum.

"Kunststück, Bert. Wenn ich mich hinstellen und versuchen würde, irgendwelchen Leuten zu erzählen, dass er ein guter Mensch war und nun unterwegs Richtung Himmel ist, dann hätte ich auch die Lacher auf meiner Seite. Erstens sehen doch alle klar und deutlich, dass er in einer Kiste liegt und gleich in einem Loch verschwindet und zweitens weiß jeder mit ein bisschen Gripps, dass dieser alte Bastard, wenn überhaupt irgendwohin, dann zur Hölle fahren wird.“, entgegnete Arnfried, klang dabei aber plötzlich so bitter, als habe in seinem Kopf jemand die Leitung übernommen, der Bertholds Bruder hätte sein können.

"Wenn man mich fragt, hat dieser dreckige Hundesohn schon immer in der Hölle gelebt. Das beste wäre, wenn die Würmer sich über ihn hermachen würden, bis nichts mehr übrig ist. Aber irgendwas bleibt immer übrig -zumindest solange wir am Leben sind. Er hat uns seine Hölle vererbt, der alte Hurenbock.“

Arnfried lachte nervös, machte eine unerklärliche Geste, seufzte und blickte Berthold an, als wäre das eine Antwort, die wiederum einer Gegenantwort bedurfte.

"Was sollte eigentlich diese 'Pillemann-Popo'-Scheiße?“, fragte Berthold und strich sich dabei eine lange braune Haarsträhne aus dem Gesicht, das im Gastronomielicht noch ein paar Jahre älter aussah als seine tatsächlichen dreiunddreißig.

"Ach, mein Sohn kommt jetzt in das Alter, in dem Mann die putzigen Schimpfwörter zusammensetzt, die man im Kindergarten aufgeschnappt hat.“

"Ich dachte heutzutage schnappt man dort die Palette zwischen Hurensohn und Bastard auf.“

"Ach Bert, du bist kein Fan von Kindern, oder?“

"Arnie. Ich bin kein 'Fan' von Leuten, die aufwachsen und mich einen Hurensohn nennen, wenn ich eines fernen Tages die Freundlichkeit besitze, damit aufzuhören ein verdammter Pflegefall zu sein und endlich abkratze.“, entgegnete Berthold mit einem gewissen Nachdruck.

"Na, na, na. Du, ich glaube nicht, dass du deinen Kindern etwas antun würdest, was das rechtfertigt. Außerdem willst du doch unsere alte Oma Pagenstecher nicht als Hure bezeichnen.“, sagte Arnfried mit jenem Anflug der Lächerlichkeit, den dümmere Menschen 'unbeschwert' genannt hätten.

"Natürlich ist sie das. Wir entstammen einer langen Dynastie von Hurensöhnen, Hurenböcken, Huren, Bastarden, Arschlöchern und insgesamt eben Missgeburten. Machen wir uns doch nichts vor: Wenn es einen Gott gäbe, dann wäre der typ, der uns in die Welt gesetzt hat nie geboren worden. Und ich bin überzeugt die Reihe geht noch wesentlich weiter zurück. Man könnte fast denken Gott sei ein Sadist und von Zeit zu Zeit, wenn er sich einen von der heiligen Palme wedelt, kommt er auf die perverse Idee gewisse Menschen zu erschaffen.“, führte Berthold aus, wobei sich seine Stimme langsam hob. Er würde nicht mehr lange in Fassung bleiben. Er hatte über den Tag verteilt schon zu viel getrunken, um noch Lust zu haben in der Fassung zu bleiben.

"Beruhige dich. Meinst du, die Frauen wollen sich deine ellenlangen Hassreden anhören, wenn sie gleich kommen? Heute ist heute. Und ein Kind wird immer unschuldig geboren. Man muss ihm den alten Mist nicht aufzwingen.“

"Der alte Mist verschwindet nicht, du Dummkopf! Wenn du deinem Kind jeden Wunsch erfüllst, wenn du es nicht 'rauf und 'runter durch die Wohnung prügelst, dann erinnerst es sich an nichts mehr. Wenn du ihm aber in den Magen schlägst, weil du einen beschissenen Tag hattest, dann wird es sich das merken. Und dann schaut man zurück und da ist nur der Mist. Und ohne den ist da gar nichts mehr. Spar dir deine altklugen Ratschläge, kleiner Bruder. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, ist er doch wieder da, der alte Mist! Und ich bin nun 15 Jahre aus diesem Irrenhaus 'raus. Der alte Wichser liegt seit 3 Jahren nur noch sabbernd im Bett und wird alle paar Stunden von einer Fremden gewendet, damit er nicht am Liegen krepiert. Und nun ist er endlich verscharrt und nichts ist weg von dem alten Mist. Dann schaust du mich mit seinen Augen an, dann höre ich immer wieder wen, der so hustet wie er und dann sagst du mir irgendetwas wäre vorbei?“, Berthold war inzwischen zeitweise so laut geworden, dass man an anderen Tischen beschämt die Augen ab- und damit gierig die Ohren zuwandte. Er zog seiner Angewohnheit ungemäß die Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche, nahm sich eine heraus, zündete sie an und sog gierig den Rauch in sich hinein. Es war plötzlich unheimlich still. Ihm waren die Anästhetika unserer Zeit immer angenehme Begleiter gewesen, aber in diesem Moment musste er würgen. Einmal, zweimal, dreimal. Und immer wieder kam Qualm heraus. Es war ein sehr einzigartiges Gefühl, Lungenschmacht zu haben und trotzdem jedes kleine Wölkchen wieder herauswürgen zu müssen.

"Ich dachte du hättest aufgehört.“, sagte Arnfried tonlos, fragte sich aber dabei, ob man wirklich mit etwas aufhören konnte, oder aber es einfach nicht mehr tat. Berthold hatte schon recht, dass Schlechtes nicht verschwand, sondern, dass man nur versuchen konnte, es nicht zu tun.

"Aufgehört. Pff. Sag mir bescheid, wenn du aufhören kannst mir auf die Nüsse zu gehen. An dem Tag schenke ich meine Kippen freiwillig dem erstbesten Kind, das mir über den Weg läuft. Und das Feuerzeug natürlich gleich dazu, denn es ist ja so unschuldig, dass man ihm keine schlechten Angewohnheiten vererben kann.“ Arnfried schien an dieser Stelle weiteren Reizthemen aus dem Weg gehen zu wollen, was bei Berthold oftmals Totenstille bedeutete.

Sie warteten so noch lange. In ihrer gegenseitigen Anwesenheit fast noch verlorener als allein.

 
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