Stillers Dachboden
  Der Rabe
 

Der Topf dampfte auf dem Herd und in lahmem Tran schaute Bertram den Kartoffeln beim Kochen zu.
An diesem späten Abend im früheren Mai, der inzwischen Dezembruar hieß, waren Kartoffeln wie so oft alles, was er hatte, denn die Frau war weg und Kinder gab es keine. In Trauer schaute er die Funzel seiner Ex-Frau an, denn davon hatte er in besseren Zeiten noch ein Foto machen können, das er selbst noch in Händen hielt, als er nun verstohlen aus dem Fenster blickte: war es die Frau oder nur das Kind, das himmlische, wie man der Legende nach früher einmal den Wind genannt hatte? Die Sprache hatte bereits zu seiner Schulzeit angefangen sich verdächtig zu winden; Moslems waren Muslime geworden und langsam wurden fette Weiber adipös. Behinderte waren inzwischen Beeinträchtigte, was er schade fand, denn das Wort ‚behindert’ hatte ihm immer sehr gefallen.  Die Juden blieben allerdings immer die Juden. Frauen hatte man zwischendurch eine Weile lang Schlampen oder Nutten genannt, aber das hatte sich schnell wieder gelegt; Falschaussagen waren nämlich in seiner Zeit von kurzer Dauer. Deshalb hatte ja seine Ex-Frau leider ihr Ja-Wort zurücknehmen müssen. 
Sie war mittlerweile bei einem Mann mit extrapyramidalem Zucken und sehr, sehr steifen Gliedern eingekehrt und ritt wohl mittelfristig lieber diesen. Betram gefiel der Gedanke nicht; er hätte sie jetzt so langsam gerne wieder und den anderen Mann mit den steifen Gliedern in Richtung Venus verschickt –inzwischen gab es nämlich Rakten, mit denen man Menschen dorthin schießen konnte, die einem nicht in den Kram passten.

Der Wetterbericht versprach einen milden Dezembruar 1998, hatte sich allerdings gehörig im Datum geirrt. Betram wusste von alledem allerdings nichts, denn er lebte in einem postapokalyptischen Verlassenheitsszenario  und spähte argwöhnisch aus dem Fenster. Was war da gewesen? Die Funzel seiner nachtblinden Ex-Frau hätte er im Dunkeln leuchten gesehen –soviel war sicher. Allerdings hatten die kochenden Kartoffeln ziemlich viel Dampf produziert und der Ausblick aus dem Fenster war sehr trüb geworden. Wohlmöglich hatte sich seine nachtblinde Ex-Frau auf das Licht der Straßenlaternen verlassen, die inzwischen auch nicht mehr waren, was sie einmal gewesen waren und irrte nun umher.
Betram fasste einen folgenschweren Entschluss: Er musste das Fenster öffnen. Der argwöhnisch Blick hatte sich in einen hoffenden verwandelt, denn er sah für sich in diesem Moment die Möglichkeit, dass seine nachtblinde Ex-Frau den Mann mit den steifen Gliedern endlich verlassen hatte, sich nun ums Haus herum tastete um sich Einlass zu verschaffen und ihn wieder nach traditioneller Manier zu reiten, wie es im Laufe der Jahre zur offiziellen, allgemein anerkannten Praxis - geiwssermaßen Usus - geworden war.

Nun kommt es allerdings zum großen Plagiat, denn anstatt einer nachtblinden, sexuell über die Maßen aufgeladenen Ex-Frau flatterte ein Rabe herein und ließ sich ohne viel Federlesen auf der kunstvoll gemeißelten Büste nieder, die in Bertrams Zimmer neben dem Herd stand, auf dem die Kartoffeln langsam aber sicher mehlig wurden. An ein Haus war ja allein gar nicht zu denken, bei den Mieten dieser Zeit, denn allein im vergangenen Jahr war einfach alles mindestens hundert Mark teurer geworden. Das kümmerte den Raben allerdings herzlich wenig, denn seine Art verfügte nach wie vor über keinerlei finanzielle Mittel. Besonders vor diesem Hintergrund sah Bertram sich außer Stande mit dem Tier zu verhandeln. Er hatte sich doch nur nach seiner nachtblinden Ex-Frau gesehnt, die sich nun wahrscheinlich mit den steifen Gliedern des Mannes mit den steifen Gliedern zu arrangieren versuchte, und jetzt das! So griff Bertram zur einzigen Möglichkeit, die einem Mann wie ihm in diesen Zeiten geblieben war: Er nahm den Besen, der dem Herd und der kunstvoll gemeißelten Büste gegenüber an seinem Klappstuhl lehnte, und puffte mit dessen Stiel erfolgreich den Raben Richtung Fenster, hindurch und hinaus.

Die Funzel seiner nachtblinden Ex-Frau allerdings sah Bertram nimmermehr. Nimmermehr, vom Foto einmal abgesehen.

 
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