Stillers Dachboden
  Schneeweg heimwärts
 

Er war schon zu lange auf den Beinen und hatte doch von Anfang an nichts mehr als zurück zu ihr gewollt. Sein Fleisch wurde schon taub; seine Sinne ergaben sich fast voll und ganz dem Schneegestöber in der kalten Luft, doch stehen blieb er nie. Seine Glieder erlahmten manchmal, dann beugten sich seine Knie ein wenig mehr, sein Kopf, seine Schultern wurden unhaltbar schwer; nur zu gehen hörte er niemals völlig auf.

Hatte er jemals gewusst, wohin sein Weg hätte führen sollen, so war es ihm entfallen. Er wollte nichts als Heim, nichts als an jenen Ort zurück, der sich so lange suchen ließ. Verloren warfen Laternen an den Straßenrändern ihr blasses Licht hinaus und es war kalt. Unter seinen Füßen knarrte trocken der Schnee, wenn immer der Wind es hören ließ. In solchen Momenten ging dieses einsame Geräusch mit seinen ausgehauchten Atemwolken in die Nacht hinaus und kam nie mehr zurück.

Es roch nach Frost, wenn seine tauben Nasenflügel einmal etwas fangen konnten. Die Hände waren unter seine Arme gepresst und krallten sich fest, als hielten sie gegen ihr Absterben. Und trotz alledem ging immer wieder ein wankender Schritt vor den anderen, ging immer noch ein Meter mehr, denn er hatte doch nie etwas als zurück zu ihr gewollt und schon gar nichts so sehr.

Hatte der Wind schon alle Hoffnung aus seinem Kopf geblasen, zog ihn die Sehnsucht dennoch wie ein langes, langes Seil zu ihr; und wären seine Lippen nicht längst gelähmt vom Frost, blau, mit Schneekristallen bedeckt, so hätte er nur den Wunsch sprechen können, dass jene Eine ihr Ende noch nicht losließe. Noch nicht, denn täte sie dies - das wusste er genau - würde er nur rückwärts auf den Bürgersteig fallen und nicht mehr aufstehen. So schöpfte er, wenn er einmal denken konnte, seine guten Gedanken daraus, dass sie da sein musste, solange er noch auf den Beinen war.

Eine Kreuzung folgte der anderen, jede neue Straße schien endlos in seiner verwehten Sicht, und dennoch: wankend aber ohne Unterlass ging er durch die Nacht, durch die Dunkelheit von Licht zu Licht -so künstlich, blass und tot ihm auch jedes davon erschien. Was mochte hinter den Jalousien, den Türen, den Wänden sein? Wachten, schliefen, liebten, hassten dort Menschen, oder waren auch sie aus?

Er war allein mit den Wörtern auf der Straße in der Nacht über Schnee gewandert -und sonst nichts. Er erinnerte sich nicht mehr an all die Dinge, die er noch benennen konnte, denn sein Leben war nun nichts mehr als tote Materiebrocken im einem schwarzen Einerlei, von denen spärliches Laternenlicht troff. Dies und eine Ahnung von Hoffnung, ein Vorschein der Sehnsucht.

Selbst der zusammengekauerte Rest seiner Seele war noch dergestalt infernal, dem winzigen Funken Hoffnung ein angemessenes Quantum an Angst gegenüber zu stellen. Er schob sie aus dem Kopf heraus, konnte sie allerdings nicht ganz von seinen Schultern schütteln. So zog die Angst ihn umso schwerer zu Boden, je erwartungsvoller er sich einem neuen Wegweiser näherte.

Eine Weile schleppte er sich noch, dann stand er kurz und schaute ein letztes Mal in das dichte Schneegestöber, ehe ihn alles schließlich zu Boden zog. Wie wichtig ist es doch, dass einen manchmal jemand findet, einen aufhebt von jenem kalten Schnee und Eis und Reif auf dem toten Steingrund dieser Welt; Schwärze hat ihn nun zugedeckt und mit dem Gesicht gen Erde träumt er einen Kuss von ihr.

Oder war das letztlich doch kein Traum gewesen? Sah er nun doch wahrhaft in jene braunen Augen, die er nie mehr aufhören wollte, anzuschauen anzufangen? Lächelte sie ihn so an, wie er es sich immer gegen die Kälte des Schnees vorgestellt hatte? Darüber wusste er nichts und fragte auch nicht weiter, denn eigentlich kümmerte ihn nicht, was es war, solange es nur so rein und schön und warm ihn heilte und er kein Eis und keinen Schnee mehr sah, solange er bei ihr weilte.

 
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