Stillers Dachboden
  Das Schwein und das Nichts
 

Irgendwo im Nirgendwo standen unscheinbare Hallen; in ihrem Inneren roch es nach dem, was sich die Menschen nach Feierabend von den Händen wuschen: etwas trockener Schmutz, hier und da kupfern geronnenes Blut und über allem der warme Mantel von fleischigem Todeshauch.

 Unter dem Banner eines gesichtslosen Großkonzerns, das in seiner Schlangengestalt durchaus an die Kaufhauskassen, Beamtenschalter, Arbeitslager und Gefängnisse der kurzen Menschengeschichte erinnerte, wurden viele geboren: auch der kleine Tom – ein Schwein - wurde in diese Welt abgesondert, die den Wesen gehörte, deren Hände bisher wenig mehr als Gitterstäbe und Schlachtwerkzeuge geschmiedet hatten; seine Haut war von leichtem Rosa und mit dünnen Härchen bedeckt –kaum anders als die, die ihn nun an der Kehle in die fliegenverstopfte Luft hob um sein frischgeborenes kleines Ohr, das noch nicht viel mehr als seine eigenen Schreie gehört hatte, zu verstümmeln, seine unbenutzten Zähne abzufeilen und ihm Schwanz sowie Geschlecht zu nehmen.

 Von nun an trieb die Zeit an ihm vorbei, wie auf einem Laufband: Der Schmerz ersetzte ihm Geborgenheit und die speckigen, nach vergangenem Leben riechenden Hände, die ihn so schnell und überpünktlich kastriert und gebrochen hatten, ersetzten ihm die Mutter. Bald lernte er Dankbarkeit: er dankte für das Futter, das ihn so schnell wachsen ließ, er dankte dafür, dass er deshalb keiner von denen war, die die Menschen Mickerlinge nannten, bevor sie sie an den Hinterläufen packten und gegen den Boden schleuderten, bis sie tot waren –und vor allem dankte er dafür, dass es unmittelbar rechts und links von ihm stählerne Gitterstäbe und unter ihm den staubig kalten Boden gab, worauf er ruhen konnte, wenn seine überlasteten Beine seinem aufgeblähten Körper nicht mehr gewachsen waren.
  Die Sonne schien hier nicht zu scheinen, stattdessen herrschte scheinbare Ruhe, wenn man schon die Schreie nicht mehr hörte und man sich nur manchmal fragte, was es heißen sollte allein zu sein; denn man war nicht –man wurde nur schwerer und schwerer, blinzelte dabei hin und wieder zu seinen Nachbarn herüber und fragte sich, was das alles nur sein mochte.
  Die kalten Stangen drückten sich langsam in Toms aufgequollene Flanken; dahinter gab es zwar vermutlich Leidensgenossen, aber er hatte keinen von ihnen jemals berühren können um seine verkümmerten Schweineaugen und seine verstümmelten Schweinsohren zu bestätigen: die meisten Schweine hatten längst aufgegeben und waren verstummt, manche jedoch kreischten noch immer um Hilfe, zitierten dabei sogar jenen geheimnisvollen Satz, den die zweibeinigen Schöpfer ihrer Käfigwelt hin und wieder aus ihren großen Schnauzen zischten: „Oh, mein Gott!“ –wer das wohl sein mochte?; ob er Tom einen etwas größeres Gehege bauen konnte?
  Auf diese Idee würde er wahrscheinlich nur dann kommen, wenn er die richtigen Sinne besaß: wenn er jemals Fleisch vor der Schlachtung in all seiner Agonie gesehen hatte, wenn er jemals das Schreien und Quieken desselben gehört hatte, wenn er tatsächlich wusste, wie Blut und Exkremente riechen konnten, wenn sie in Litern den Boden durchtränkten, wenn er das alles einmal geschmeckt hatte, weil er nicht mehr stehen konnte und nicht mehr mit verstümmelten Zähnen in kalte, eiserne Stäbe beißen wollte; und vor allem wenn er ein Leben zwischen Schmerz, Angst vor noch mehr Schmerz und der verzweifelten Frage nach einem Sinn –oder wenigstens einem Ende— nachfühlen konnte. Tom bezweifelte das, denn dann müsste ein solcher Gehegebauer ja in genau so einem Leben; warum würde er sein eigenes Leid reproduzieren wollen –warum Gehegebauer sein?
 Natürlich stellte sich dieses Schwein solche Fragen aus reiner Unsicherheit, denn jeder Mensch würde ihm sein Schicksal erklären können –und warum er manchmal von einem Gott sprach?: erst recht.
 Tom fühlte sich irgendwie Fremd, obwohl ihm kein anderes Leben bekannt war; vermutete manchmal, dass ursprünglich seine Beine zum Gehen, seine Zähne zum Beißen und… für die anderen Teile fiel ihm keine Funktion ein; für Gehen und Beißen bei näherer Betrachtung seiner Welt auch nicht –vielleicht hatte man ihn einfach nur möglichst funktionierend gemacht: Schmerzen gehörten dann wohl dazu.

 Zweifel an seiner Idee, dass er in der beste aller Welten lebte, kamen ihm erst, als er eine andere sah: Licht brannte in seinen Augen; mit den Schlägen einer Eisenstange trieb man ihn in diese neue Welt, ganz aus Farben und Schreien gemacht.
 Dumpfe Einsamkeit, schluchzende Ruhe und blasser Frieden waren vorbei; Fremd waren die Schweine schon gewesen, wo sie waren, doch nun entführte man sie selbst von dort.
 Es wurde immer enger und Welten pfiffen im Wind vorbei; manch ein kleines Schwein zerbrach unter dem Gewicht größerer Schweine, manch ein Außenseiter fror einfach fest.
 Tom schaute sich um, wer denn wohl mit ihm die Reise des Lebens teilte und sah nichts als Jammer, Angst und Verzweiflung unter Augenlidern rollen, sah dass manche vom Durchhalten predigten, von Erlösung träumten, oder ihre Lage zynisch belächelten, aber hinter geschlossenen Augen haderten sie wie die anderen: Man sah weder ein Ziel noch wenigstens eine Rast; man kannte nichts, worauf man hoffen konnte; und man hatte Schmerzen –wusste oft nicht einmal woher sie kamen.
 Tatsächlich schien die Zeit voranzuschreiten, tatsächlich schien die Fahrt ein Ziel gehabt zu haben; freilich waren viele inzwischen längst äußerlich und/oder innerlich gestorben.
 Tom allerdings hatte ausgehalten; durch all den Stahl, den Beton, das Blut, die Kälte und nicht zuletzt die Schmerzen –nicht weil er es sich gewünscht hätte, sondern weil er der Meinung war, dass die Pointe noch ausstand.
 Wollte man so zynisch sein, hier von einer Pointe zu sprechen, so sah sie folgendermaßen aus: Man trieb Tom unter schmerzen durch weitere Irrwege, denn etwas anders schien es auf der Welt nicht zu geben; irgendwann schnitt man ihm irgendwo die Kehle auf –da hing er schon Kopfüber; in kochendem Wasser starb er dann, denn er war nicht rechtzeitig gestorben, bevor man seinen Lebensrest durch einen Enthaarungstank zog.
 Wäre der Tod eine Erlösung, müsste man sich fragen, wozu das Leben denn zu leben wäre; hätte das Leid einen Sinn, müsste man sich fragen, worin er denn bestehen sollte; und könnte man auch nur das allerkleinste an all dem ändern, müsste man sich fragen, warum man es nicht tat, wenn es doch ansonsten keine Hoffnung gab.
 Fragen gab es für Tom nun keine mehr.

 Er wurde geschlachtet und kam Stück für Stück in den Handel; kaum anders als ein Mensch, wenn er seine Werktage an die Wirtschaft, seine Träume an die Zufriedenheit und seine Liebe an die Gewohnheit verkauft.

 
  Heute waren schon 8 Besucher (22 Hits) hier!  
 
Diese Webseite wurde kostenlos mit Homepage-Baukasten.de erstellt. Willst du auch eine eigene Webseite?
Gratis anmelden