Stillers Dachboden
  Eine alte Geschichte
 


 Die Sucht ist so eine Sache: Sie macht uns, sie nimmt uns auseinander, sie hält uns zusammen –sie ist der Wahnsinn, den man normal nennt, wenn ihn nur genügend andere in seiner speziellen Ausprägung teilen.
  Ich spreche hier nicht von irgendeiner bestimmten Stoffabhängigkeit, aber Sie werden verstehen, was ich meine. Leidenschaft, Befriedigung, etwas zum darauf freuen, etwas für einen ganz alleine, oder auch zum teilen Ein bisschen wie eine Frau, denke ich.
  Und meine Damen und Herren: Hier kommt natürlich die klassische „Nehmt keine Drogen, Kinder!“ –Wendung, die man aus Funk und Fernsehen kennt. Ich für meinen Teil bin damals durch Aufklärungsfilme in der Schule auf viele wunderbare Ideen überhaupt erst gekommen.
  Gut, der Haken an der Sache also: Es wird irgendwann mechanisch. Wie Essen und Trinken, wenn man keinen Sinn für gute Steaks und teuren Whiskey hat. Natürlich gibt es die Glanzlichter, wenn man zum Beispiel eine Zigarette aus einer Notizbuchseite und den letzen Krümeln aus einer weggeworfenen Tabakpackung raucht. Aber alles in allem wird es irgendwann sehr normal.

  Der Mann, von dem ich hier erzählen will, hat es vorbildlich geschafft, sich einen gewaltigen Misthaufen von einem Leben aus diesen verqueren Normalitäten aufzuschichten. Wie wollen wir ihn nennen? Dieter? Das sollte gehen.
  Dieter also, war ein ziemlich feiner Kerl, erzählt man sich. Er hat sich unter den Nazis das gewöhnliche Quantum an Blech verdient, das man heutzutage in kleinen Kästchen auf Dachböden findet. Für die Alten klebt ein bisschen Melancholie daran, denn mit den Jahren verdeckt der Staub viele ehemalige Gefühle. Außerdem ist das Leben eben gelaufen, wie es gelaufen ist; da nützt es wenig Jahrzehnte später noch darüber nachzudenken, dass man eigentlich lieber Angeln gegangen wäre.
  Die Jungen hingegen betrachten solche Antiquitäten mit verschiedenen Gefühlen. Sie sind bis zum Erbrechen mit Deportation, Vernichtungslagern und Pogromen zugeschüttet worden, sodass es ihnen schwer fällt, noch tief berührt zu sein. Aber wenn man dann ein echtes Hakenkreuz in die Finger bekommt, ist plötzlich eine morbide Faszination da. Man hat ein Stück Geschichte in der Hand und relativ schnell wird klar, wie wenig Bezug man eigentlich fühlt. Schnell setzt die übliche Langeweile ein und man legt die Sachen zurück ins Kästchen, wo sie auf den nächsten ignoranten Schaulustigen warten können.

  Vor dem Krieg wird Dieter das übliche getan haben: In kurzen Hosen herumlaufen, schelmisch in die Kamera grinsen und Schwarz-Weiß sein. Wie alle anderen Leute auch bis in die Siebziger. Dann wurden sie ja schon bunter, aber leider ziemlich rötlich. Das ist ja so ungefähr die Zeit von elterlichen Hochzeitsfotos mit Rüschenhemden und gewaltigen Koteletten.

  Nach dem Krieg verbrachte er noch einige Zeit in einem Kriegsgefangenlager an irgendeinem gottverlassenen Ort, wobei es natürlich ein Thema für sich ist, ob Orte überhaupt gottverlassen oder gottbewohnt sein können. Darüber kann man an einem lauen Sommerabend im Garten bei Bier und Zigaretten sprechen; irgendwo zwischen den Brüsten des aktuellen Vorzeigefernsehflittchens, Fußball und den Landtagswahlen in Brandenburg –es wird vermutlich wieder einmal viel Braun gegeben haben.
  Wir sind also in den Fünfzigern. In Deutschland sieht es düster aus. Dieter ist nicht auf den Kopf gefallen und findet eine Anstellung in einem Speditionshaus, wo er sich schnell hocharbeitet und einige jahre später schon in der Position ist, beträchtliche Mengen an Geld zu veruntreuen. Er heiratet eine kleine, bittere Frau und die beiden setzen umgehend drei Kinder in die Welt, wie es zu der Zeit üblich war, denn der Pillenknick sowie die Entdeckung von Aids und der damit verbundene Gummi-Boom standen noch bevor. Abgesehen davon hatte man ja nichts gegen Kinder; es waren zwar nicht alle gewünscht, aber man kämpfte auch nicht so sehr dagegen an. Schließlich wollte ja auch der frische demografische Knick ausgebügelt werden. Auch Abtreibungen waren noch weit davon entfernt eine offizielle Alternative zu sein.
  Hinter vorgehaltener Hand spekuliert man bis heute, ob die kleine, bittere Frau vielleicht abgesehen von dem harten Leben mit Krieg und Armut vielleicht auch deswegen so bitter geworden ist, weil sie eine Vergewaltigungsschwangerschaft und eine selbstgemachte Abtreibung des entsprechenden Besatzerbabys erleben musste. Das sind natürlich nur Gerüchte und Hörensagen, aber festzuhalten bleibt, dass sie ein ziemlich beschissenes Leben hinter sich hatte und es – das sei vorweggenommen – nicht unbedingt besser werden sollte.

  Dieter lernte sehr schnell schwarzen Tabak und Hochprozentiges lieben und so blieb immer weniger von seinem ohnehin kleinen Gehalt übrig. Arm zu sein, war nicht unüblich, aber seine Kinder waren oft unterernährt; manche Mitschüler teilten ihr Essen mit ihnen, andere hänselten sie und machten ihnen das Leben noch ein bisschen schwerer. Heute würde man das natürlich Mobbing nennen, Konferenzen einberufen, und ein bundesweites Mobbing-Verbot verabschieden, aber in so politisch korrekten Zeiten konnte Dieters Familie leider nicht aufwachsen. Seine kleine, bittere Frau, zog drei kleine, bittere Töchter auf.
  Inzwischen in den Sechzigern angekommen, begann es den Leuten um sie herum langsam besser zu gehen, während Dieter ein hemmungsloser Trinker wurde und seine Frau immer regelmäßiger mal stoisch ins Leere starrte, mal in der Küche saß und weinte. Die drei Mädchen lagen zusammen in ihrem kleinen Bett und träumten davon, sich satt zu essen, vielleicht wenigstens ein Kleidungsstück zu haben, das nicht schon längst von anderen abgetragen war und in dunkleren Nächten dachten sie daran, was ihr Vater manchmal tat.

  Es hatte sich als sinnvoll erwiesen, Dieter von der Arbeit abzuholen und ihm die Lohntüte abzunehmen, bevor er sie mit in die Kneipe nehmen konnte. Selbstverständlich führte das nur dazu, dass er sich zum Ausgleich die von seinen Töchtern holte, sobald sie angefangen hatten zu arbeiten. Schule war schnell abgehakt. Als eine der drei eines Tages fragte, ob sie einen höheren Abschluss machen dürfe, wurde nur mit einer Ohrfeige geantwortet. Andererseits brachte sie jeder Arbeitstag einen Schritt weiter aus dem Haus, es galt nur schnell einen Mann zu finden –man sagte mir, der gehörte damals noch dazu.
  Das Spielchen mit den Lohntüten hatte für Dieter wechselhafte Konsequenzen: Mal musste er mit dem Doppelkorn sparsam sein und mal konnte er richtig auf den Putz hauen, dass seine ganze Familie unterwegs war, um ihn einen Tag später irgendwo auf seinem Nachhauseweg zu finden. In wie weit das veruntreute Geld sich auswirkte, kann ich nicht sagen; allerdings war es damit am Ende der Sechziger auch vorbei. Die Nummer flog auf. Arbeitslosigkeit: Ahoi.
  Zu Dieters Glück verdienten seine Töchter inzwischen alle Geld, aber gleichzeitig planten sie auch schon die Flucht.

  In den Siebzigern war es so weit: besagte Hochzeitsfotos mit Rotstich. Man hatte gute Männer gefunden, die keine Angst machten.
  Das Haus wurde leer. Irgendwie schaffte Dieter es, eine Stelle als Pförtner bei einer Schiffswerft zu bekommen und hielt sich dort eine Weile. Als er dort nicht mehr tragbar war, stand die Rente schon unmittelbar bevor. Die Töchter mussten ihrer Mutter immer heimlich Unterstützung zukommen lassen und irgendwie kamen Dieter und seine Frau durch die Jahre. Von viel mehr handelt diese Geschichte ja eigentlich auch nicht: Diese Leute kamen irgendwie durch die Jahre. Einfach nur so. Ohne auf bessere Zeiten zuzusteuern.
  Dieter begann langsam zu sterben. Sein Bein war wegen des guten alten Tabaks zuerst an der Reihe. Enkelkinder erinnern sich heutzutage hauptsächlich an die Holzprothese. Seine Frau wurde kleiner, buckliger und entwickelte allerlei Krankheitsbilder, aber gewohnt stoisch ging es bei ihr immer weiter. Die Töchter hatten Töchter und Söhne, das Rentenalter war erreicht; Dieter polierte sein Holzbein, drehte seine blau qualmenden Zigaretten und blieb bei seinem Doppelkorn. Mehr ist nicht zu erzählen. Ein bisschen Plunder, Nazi-Abzeichen und eine Dynastie von Bitterkeit: Das bleibt unter dem Strich, als er Mitte der Achziger stirbt.

  Was das jetzt mit Sucht im Allgemeinen zu tun hat? Ich denke alles und nichts, je nachdem, was man mit dem Argument erreichen kann, wenn man einmal vor dem Richter steht.

 
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